Das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit

In dem Artikel Prioritäten von Anforderungen – Kategorie oder Reihenfolge hatte ich mehrfach Bezug auf das Kano-Modell der Kundenzufriedenheit genommen, ohne dieses dabei näher zu erklären. In diesem Artikel holen wir das nach.

Die meisten von uns, die sich mit Produkt- oder Anforderungsmanagement auseinandersetzen, kennen das folgende Problem der Entscheidung: In welcher Reihenfolge sind Anforderungen umzusetzen bzw. welche sind überhaupt umzusetzen? Selten mangelt es an Anforderungen an das, was ein zu erstellendes Produkt alles können soll. Unzählige Interessenvertreter haben ihre eigenen Vorstellungen davon, was absolut unverzichtbar ist und damit auf jeden Fall umgesetzt werden muss. Und zwar immer als allererstes! 

Das Kano-Modell versucht hierbei Licht ins Dunkel zu bringen und dem Entscheider ein Werkzeug an die Hand zu geben, um in diesem Wirrwarr die Streu vom Weizen zu trennen. Dadurch wird eine nachvollziehbare Grundlage für die Entscheidungen geschaffen, was umgesetzt wird und was eher nicht und in welcher Reihenfolge.

Damit ist jedoch auch klar, was das Kano-Modell nicht macht: Es unterstützt nicht bei der Erhebung der Anforderungen. Um diesen Pool an Anforderungen zu generieren, müssen vorher andere Techniken verwendet werden, auf die wir in diesem Artikel jedoch nicht eingehen wollen. Zur Entstehung des Modells möchte ich mich an dieser Stelle darauf beschränken, dass das Kano-Modell auf Prof. Dr. Noriaki Kano von der Universität Tokio zurückgeht.

Bevor wir in die Details des Kano-Modells einsteigen, klären wir erst noch kurz drei Definitionen.

Als erstes müssen wir festhalten, dass im Kano-Modell nicht von Anforderungen, sondern von Produktmerkmalen gesprochen wird. Anforderungen sollten sich in der Regel auf Produktmerkmale beziehen, d.h. sie „fordern an“, dass das Produkt ein bestimmtes Merkmal aufweist bzw. nicht aufweist. Ein Produktmerkmal selbst ist eine für den Kunden spürbare Eigenschaft des Produkts, also z.B., dass er sich anmelden kann. Und unter Kunden verstehen wir hier den Personenkreis, der mit unserem neuen Produkt umgehen muss bzw. es kaufen soll.

Kommen wir jetzt zum Kano-Modell. Dort werden Produktmerkmale in fünf Kategorien aufgeteilt:

  • Basis-/Must-Have Merkmal: Basismerkmale eines Produktes sind so grundlegend und selbstverständlich, dass sie dem Kunden erst bei Nichterfüllung bewusst werden. Werden sie aber nicht erfüllt, dann entsteht eine starke Unzufriedenheit. Umgekehrt entsteht aber bei Erfüllung nicht wirkliche Zufriedenheit. Ein Beispiel hierfür kann die Möglichkeit zur Anmeldung in einer Software sein. 
  • Lineares-/Leistungsmerkmal: Lineare Merkmale sind dem Kunden durchaus bewusst und sie beseitigen Unzufriedenheit oder schaffen Zufriedenheit abhängig vom Ausmaß der Erfüllung. Die Bereitstellung linearer Merkmale wird von Kunden also bewusst mit Zufriedenheit belohnt. Ein Beispiel hierfür ist die Reaktionsgeschwindigkeit eines Softwareprodukts.
  • Begeisterungsmerkmal: Begeisterungsmerkmal sind Nutzen stiftende Merkmale, mit denen der Kunde nicht unbedingt rechnet, also Merkmale, die dem Kunden einen überraschenden Mehrwert liefern. Sie zeichnen das Produkt gegenüber der Konkurrenz aus und rufen damit oft Begeisterung hervor. Eine kleine Leistungssteigerung kann zu einer überproportionalen Nutzenstiftung führen. Die Differenzierungen gegenüber der Konkurrenz können gering sein, die Nutzenstiftung aber dennoch enorm.
  • Unerhebliches Merkmal: Sind sowohl bei Vorhandensein wie auch beim Fehlen ohne Belang für den Kunden. Sie können daher keine Zufriedenheit stiften, führen aber auch beim Fehlen nicht zu Unzufriedenheit.
  • Rückweisungsmerkmal: Rückweisungsmerkmale führen beim Vorhandensein zu Unzufriedenheit, beim Fehlen jedoch nicht zu Zufriedenheit. Rückweisungsmerkmale sind häufig Merkmale, die nicht dem Kunden, sondern dem Hersteller oder Produktanbieter nutzen. Ein Beispiel hierfür wäre ein Kopierschutz oder das Sammeln von Kundendaten für Marketingzwecke.

Soweit so gut, wir habe jetzt also auf der einen Seite 5 Kategorien und auf der anderen eine große Liste voll mit Anforderungen. Aber wie ordne ich jetzt meine Anforderungen in diese fünf Kategorien ein?

Eine Möglichkeit wäre, dass ich als der Produktverantwortliche dieses anhand der Beschreibungen oben jetzt selbst mache. Dafür muss ich aber die zukünftigen Kunden und deren Bedürfnisse schon ziemlich genau kennen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ich dabei des Öfteren mal danebenliege, dürfte recht hoch sein.

Besser also, ich frage die potenziellen Kunden selbst, und zwar möglichst viele davon. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, nach welchen Kriterien eine Anforderung einer der fünf Kategorien zuzuordnen ist. Die Beschreibungen oben sind verhältnismäßig dürftig und könnten von jedem etwas anders verstanden werden. Dadurch wird die Aufgabe der Zuordnung schnell eine recht anspruchsvolle und komplexe Tätigkeit. 

Deshalb geht das Kano-Modell einen anderen Weg, den einer bipolaren Befragung. Jede:r Proband:in wird zu jedem Merkmal jeweils mit einer funktionalen und einer dysfunktionalen Frage konfrontiert. Oder verständlicher ausgedrückt: Er:sie soll zu jedem Merkmal mitteilen, wie er:sie es fände, wenn:

  • es vorhanden ist 
  • wenn es fehlt


Als Antwortmöglichkeiten stehen ihr:m für beide Fragen  zur Verfügung: 

  • Ich mag es genau so
  • Ich erwarte, dass es so ist
  • Mir egal
  • Ich kann damit leben
  • Das stört mich


Super, jetzt habe ich pro Merkmal sogar zwei Antworten von einem Probanden, wie soll ich denn daraus jetzt zu meiner Kategorie kommen? Hier kommt die Magie des Kano-Modells ins Spiel, und zwar in Form der Antworten-Kategorien-Matrix.

Wir finden in dieser Matrix in den Schnittpunkten der möglichen Antworten auf die beiden Fragen alle unsere fünf Kategorien wieder plus zweimal eine unlogische Kombination. Bei den beiden unlogischen Antwortkonstellationen hat möglicherweise der:die Proband:in die  Fragestellungen nicht richtig verstanden. Entweder ignorieren wir das oder, wenn wir die Möglichkeit dazu haben, wir stellen die Frage nochmal und achten dabei auf das Verständnis der Fragestellungen.

Aus den Antworten auf die beiden Fragen einer:s Probanden:in kann nun die Kategorie einfach abgelesen werden. Jetzt befragen wir natürlich nicht nur einen Kunden, sondern pro Produktmerkmal fragen wir möglichst viele potenzielle Kunden und halten das Ergebnis in einer Tabelle fest. In der Tabelle unten habe ich ein Beispiel dafür erstellt.

Wir haben drei Merkmale befragt und die Verteilung der Zielkategorien der einzelnen Befragungen prozentual in einer Tabelle zusammengefasst.

Bei dem Produktmerkmal 1 haben wir mit 43,8% eine eindeutige Spitze für lineares Merkmal, bei dem Produktmerkmal 2 mit 54,3% eine eindeutige Spitze für Basismerkmal. Beim Produktmerkmal 3 jedoch haben wir zwei Spitzen, einmal 36,6% für Basismerkmal und dann nochmal 39,1% für Begeisterungsmerkmal. 

Dies kann darauf hindeuten, dass wir vielleicht zwei unterschiedliche Arten von Kunden für unser Produkt haben, die unterschiedliche Erwartung an unser Produkt hegen. Sinnvollerweise analysieren wir in diesem Fall, welche unterschiedlichen Kundenarten das sind und legen anschließend fest, auf welche von beiden Kundenarten wir den Fokus legen wollen.

Kommen wir zurück zu unserer Ausgangssituation: Wir sind ein armer Produktverantwortlicher und alle Interessenvertreter haben uns mit Unmengen an Anforderungen zugeschüttet. Wir haben aus (fast) all diesen Anforderungen Produktmerkmale extrahiert und diese durch das Kano-Modell in Kategorien eingeordnet. 

Ist damit jetzt klar, welche Anforderungen bzw. Produktmerkmale umzusetzen sind und in welcher Reihenfolge?

Leider nicht so ganz. Fangen wir mit den einfachen Fällen an: Die Rückweisungsmerkmale und die unerheblichen Merkmale. 

Das Kano-Modell priorisiert Produktmerkmale aus Sicht des Kunden und aus dieser Sicht sollte auf Rückweisungsmerkmale auf jeden Fall verzichtet und unerhebliche Merkmale sollten nur am Schluss umgesetzt werden, wenn noch Zeit und Geld da ist. Obwohl sie aus dieser Sicht eigentlich nur Resourcenverschwendung sind. Also besser auch nicht umsetzen.

Allerdings bestimmen ja nicht immer nur die Kundenwünsche die Notwendigkeiten für bestimmte Produktmerkmalen. Bevor diese Merkmale also tatsächlich komplett gefeuert werden, müssen wir erst noch prüfen, was die Intention zu diesen Merkmalen war. Bei gesetzlichen Vorgaben oder technischen Notwendigkeiten kann die Welt schon ganz anders aussehen. Aber wenn nichts dergleichen zutrifft, dann raus damit und lieber ein schlankes Produkt gestalten.

Kommen wir zu unserem Dreigestirn: Basis-, lineare und Begeisterungsmerkmale.

Mit Basismerkmalen gewinnt man keinen Blumentopf, wenn sie aber fehlen, floppt wahrscheinlich das ganze Produkt. Also müssen sie wohl rein. 

Wie dringend sie rein müssen, also mit welcher Priorität verglichen mit den Linearen und Begeisterungsmerkmalen, hängt davon ab, wie ich die Releases auf den Markt bringe. Wenn ich klassisch im Wasserfall arbeite und vielleicht nur alle 12 Monate ein neues Release rausbringe (oder sogar noch seltener), dann müssen alle Basismerkmale bereits im ersten Release drin sein, denn die Kunden werden das Produkt so lange nicht akzeptieren, wie die Basismerkmale nicht enthalten sind oder mit der baldigen Nachlieferung zu rechnen ist. 

Wenn ich dahingegen in wesentlich kürzeren Zeitabständen meine Releases ausliefere, z.B. jeden Monat oder alle zwei und dieses auch entsprechend kommuniziere, dann sind Kunden schon eher geneigt, dass Fehlen von Basismerkmalen für kurze Zeit in Kauf zu nehmen.

Natürlich muss das, was ich ausliefere, immer in sich funktionsfähig sein, alles andere wäre ja völliger Unsinn. Aber anstatt für den gesamten geplanten Funktionsumfang des Produktes erst mal nur die Basismerkmale zu erstellen und auszuliefern und dem Kunden damit ein „ist ja ganz nett“ zu entlocken, fokussiert man nur einen bestimmten Funktionsbereich. Diesem realisieren wir mit seinen notwendigen Basismerkmalen plus weiteren linearen und Begeisterungsmerkmalen. Der Kunden gewinnt damit einen guten Eindruck dessen, was ihn nach und nach bei unserem Produkt erwarten wird und er kann evtl. auch mit der Teilfunktionalität schon Mehrwerte für sich erzielen.

Damit wäre das mit den Basismerkmalen schon mal geklärt. Aber wie gewichten wir lineare Merkmale gegenüber Begeisterungsmerkmalen?

Begeisterungsmerkmale sprechen oft ein sehr subjektives Empfinden gegenüber einem Produkt an und gewinnen in der Regel eher durch den Überraschungseffekt oder das Alleinstellungsmerkmal („das hat halt kein anderer so, deshalb ist es cool“). Beide Effekte nutzen sich aber mehr oder weniger schnell ab. Der Überraschungseffekt ebbt ab oder die Konkurrenz zieht nach.

Lineare Merkmale stellen dahingegen meist tatsächliche Wehrwerte des Produktes für den Kunden dar, die meistens auch auf Dauer erhalten bleiben. Rein ökonomisch gesehen wären deshalb die linearen Merkmale den Begeisterungsmerkmalen vorzuziehen. Unsere Kunden sind jedoch alle auch nur Menschen und die Begeisterungsmerkmale sind es, die dann doch oft die Kaufentscheidung oder die Akzeptanzbereitschaft für unser Produkt stark beeinflussen. So gesehen ist die Entscheidung für Begeisterungsmerkmale irgendwie auch ökonomisch. Zumindest für den, der das Produkt verkauft.

Im Endeffekt macht es die gesunde Mischung aus. Ein Produkt nur mit linearen Merkmalen ist zwar wertvoll, aber unsexy. Ein Produkt nur mit Begeisterungsmerkmalen verleitet zwar zum schnellen Kauf, aber nicht zur Nutzung. Ein guter Erfahrungswert ist, den Schwerpunkt auf lineare Merkmale zu setzen, damit der Kunden tatsächlich echten Mehrwert erhält und das mit einer Handvoll Begeisterungsmerkmale zu würzen, damit er sich auch für unser Produkt entscheidet bzw. die Nutzer das Produkt bereitwillig akzeptieren.

Ich hoffe, ich konnte ein bisschen Licht ins Dunkel bringen. Die Quintessenz ist, dass das Kano-Modell eine gute Unterstützung dabei anbietet, sich der Qualität von Anforderungen bewusst zu werden und sich aus der Vielzahl an Anforderungen auf die zu konzentrieren, die bei den Kunden gut ankommen werden. Es ist aber kein Mechanismus, in den ich oben einfach eine Liste an Anforderungen reinkippen kann und unten kommt dann die fertige Reihenfolge heraus. Der gesunde Menschenverstand der Produktverantwortlichen ist bei den Entscheidungen immer noch erforderlich. 

Quellen:

  • Agile Estimating and Planning, Mike Cohn, 2006
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Kano-Modell