Remote Retrospektiven

Ein Praxisbericht

Remote Retrospektiven

Wie schnell sich doch manchmal die Dinge ändern. Nicht wenige kämpften jahrelang für eine ausgeprägtere remote Kultur in ihrem Unternehmen, scheiterten aber regelmäßig an manchmal sicherlich nachvollziehbaren, häufig aber eben nur fadenscheinigen Begründungen gegen Home Office. Nun, ein gutes halbes Jahr und ein Virus später, haben sich Dinge gravierend verändert. Remote Work ist für Unternehmen der unterschiedlichsten Branchen das Mittel der Stunde, um weiterhin produktiv zu sein. Doch die oftmals aus gegebenem Anlass unkoordinierte und überstürzte Flucht ganzer Abteilungen in ein remote Setting bringt ganz neue Herausforderungen für Unternehmen und Arbeitnehmer mit sich. Als Beratung für agile Projektmanagement Methoden mit Schwerpunkt auf Scrum, haben wir in diesem agilen Kontext, welcher so stark von Kommunikation und Transparenz lebt, so einige Erfahrungen sammeln können. In diesem Bericht konzentrieren wir uns dabei auf die Retrospektive. Als Scrum Event, welches im agilen Setting wohl am meisten für Feedbackkultur, Transparenz und Offenheit steht lassen sich hervorragend Herausforderungen und auch Handlungsmaßnahmen für Teams in remote Work ableiten. In diesem Artikel soll es nicht um die Theorie von Retrospektiven geben. Wer sich hier noch mal den offiziellen Scrum-Wortlaut in Erinnerung liefern will sei hier auf den offiziellen Scrum Guide verwiesen.
Punkt 1 – Rahmen schaffen

Klar, eine gute Vorbereitung (in den meisten Fällen durch den Scrum Master) ist immer eine Grundvoraussetzung. Allerdings wirft das remote Setup neue Fragen auf, die der Organisator einer Retrospektive von vorne weg klären sollte. Neben den klassischen Fragestellungen wie „Sind alle Teilnehmer informiert“ oder „ist der Raum gebucht“ erfordert eine remote Session eine gesonderte Vorbereitung. Anhand der folgenden beispielhaften „remote Checklist“ lassen sich diese Punkte und die daraus resultierenden Anforderungen darstellen.

Dabei sind es häufig die scheinbar banalen Punkte, die schon direkt einen reibungslosen Start in ein Online-Meeting verhindern und unnötig Zeit und Nerven für alle Beteiligten kosten. Hat jeder Zugang zu den eingesetzten technischen Tools wie Videokonferenzsysteme oder online Whiteboards? Werden Teilnehmer drauf hingewiesen VORHER einen Technikcheck zu machen? Existieren Fall Back Szenarien, sollte die Technik partout streiken, usw.? Eine eigens erstellte Checkliste kann hier Wunder bewirken, damit nicht schon der Start in eine Retrospektive oder sonstige Online Session stockt.

Punkt 2 – Working Agreements

Nutzen Sie die erste remote Retrospektive, um Arbeitsvereinbarungen zu treffen, die an das remote Setting angepasst sind. Remote Sessions erfordern eigene Regeln, welche die Teilnehmer gemeinsam entwickeln und dann auch entsprechend einhalten. Beispiele hierfür sind:

Hierbei gilt, übertreiben Sie es nicht mit den Regelungen. Als Faustformel kann man sagen, dass sie sich irgendwo zwischen 3 – 7 Regeln bewegen sollten, um die Klarheit solcher Regeln zu bewahren.

Punkt 3 – Remote Retrospektiven als Chance erkennen

Wie sehr hatten wir uns an den Anblick vollgekritzelter Whiteboards und mit Haftnotizen zugeklebten Fensterwänden gewöhnt. Nicht zu vergessen der persönliche Austausch samt der Registration von Emotionen und Reaktionen unserer Gesprächspartner. All dies ist jetzt nicht mehr möglich, oder? Doch ist es, nur eben anders, aber dadurch nicht weniger produktiv und erhellend.

Die technische Umsetzung

Kommen wir zum ersten Teil. Die technische Umsetzung einer Remote Retrospektive. Dank digitaler Tools lassen sich die klassischen Vor Ort Retrospektiven kreativ auf digitale Whiteboards übertragen. Durch völlig neue Möglichkeiten der parallelen Interaktion öffnen sich dabei neue kreative Wege, die buchstäblich nur einen Klick weit entfernt sind. Zahlreiche Artikel haben sich bereits mit den entsprechenden Tools beschäftigt, weshalb wir hier nicht in die Aufzählung einzelner Tools übergehen. Folgend geben wir Ihnen stattdessen ein Beispiel für ein technisches Retro Setting, welches sich bei uns bewährt hat:

  • Zoom als Videokonferenzlösung
  • Miro (miro.com) als digitales Whiteboard
  • Interner Kommunikationskanal wie Slack, Skype oder Rocketchat als „Fall-Back“ Kanal

Digitale Whiteboards wie das erwähnte Miro haben den Vorteil, dass man die „normalen“ bekannten Methodiken einer Retro entweder eins zu eins nachbauen kann oder aber auch Retrospektiven präsentiert, die so vor Ort nicht umsetzbar bzw. zu aufwändig wären.

So kann man zum Beispiel klassische Retro Methoden wie „Timeline“, „Wetterbericht“ oder „4L’s“ durchführen oder auch kreative neue Ideen verwirklichen. Dazu finden sich hier zum Beispiel Ideen.

Gerade Personen, die bislang wenig Erfahrung in der Vorbereitung von Remote Retrospektiven gesammelt haben, sollten sich zudem anfangs mehr Zeit als üblich für die Vorbereitung nehmen. Im Optimalfall geben Sie transparent weiter, dass es auch für Sie Neuland ist und daher noch nicht alles perfekt ist. Das nimmt Ihnen auch etwas den Druck eine tadellose Retro herzaubern zu müssen. So oder so helfen uns aber hier digitale Tools um auch im remote Setting technisch saubere Retrospektiven durchzuführen.

Der Faktor Mensch in der Retrospektive

Nachdem wir nun geklärt haben, dass die technische Umsetzung einer Remote Retrospektive durchaus möglich ist und sogar neue kreative Aspekte hervorbringen kann, soll es nun um den Faktor Mensch gehen. Einer unserer Erfahrung nach meist genannten Kritikpunkte an der Remote Arbeit ist die fehlende zwischenmenschliche Kommunikation. Man trifft sich eben mal nicht schnell in der Kaffeeküche oder spürt die aktuelle Stimmung im Büro. Dies betrifft speziell auch die Retrospektive, welche ja durchaus auch mal emotionaler und persönlicher sein kann, da hier Dinge offen angesprochen werden. Hier sind dem Remote Setup natürliche Grenzen gesetzt. Und dennoch verbergen sich auch hier ungeahnte Potenziale, die den fehlenden zwischenmenschlichen Faktor zwar nicht ersetzen können, aber auf eine andere Art Vorteile bringen.

So kann die räumliche Distanz einer digitalen Retrospektive auch förderlich sein. Bei bestimmten Personen können Hemmnisse ihre eigene Meinung zu äußern wegfallen, wenn man sich durch die räumliche Trennung weniger angreifbar fühlt. Hier ist der Moderator deutlich mehr gefragt. Zum einen muss er darauf achten jene mit einzubeziehen, welche das Home Office nutzen, um sich noch mehr aus Diskussionen zurückzuziehen. Zum anderen steigt insgesamt der Moderationsaufwand, da immer nur einer reden kann und es dadurch einen sehr strukturierten Ablauf bedarf. Heißt, hier sind die Skills des Moderators umso mehr gefragt. Durch die erzwungene größere Strukturiertheit (z.B. es redet immer nur einer) besteht die Chance, dass auch alle ausgeglichener zu Wort kommen.

Persönliches Fazit

Ja, Remote Retrospektiven können nicht eins zu eins die klassischen vor Ort Events ersetzen. Dafür fehlt es an der direkten Interaktion miteinander, das Gefühl für die Stimmung im Raum usw.. Akzeptiert man das und erkennt die digitalen Retrospektiven als Chance an, werden Sie von den Möglichkeiten überrascht sein. Das remote Setting erfordert zumindest anfangs mehr Planung und mündet damit auch fast automatisch in einer strukturierten Session. Klare Working Agreements erleichtern hingegen die Zusammenarbeit immens und technische Tools wie Miro lassen viel Spielraum die Retrospektive auch weiterhin individuell zu gestalten.

Autor: Dirk Theißen

Übrigens: Wir von binaris informatik unterstützen Sie gerne bei Ihrer Scrum Umsetzung und geben unser Wissen auch gerne in Schulungen weiter 😉